Was ist Bhakti-Yoga

 

Bhakti — Die Basis der indischen Theologie

Bhakti bedeutet liebevolle Hinwendung, liebende Hingabe an Gott. Im höchsten Sinne, ein ‚Sich-völlig-an-Gott-verschenken‘ (atma-nivedanam).

Gottesliebe (Premabhakti) erfordert mindestens zwei Individuen: Gott selbst und jemanden, der sich ihm liebend hingibt. Doch es ist relativ schwer, sich einem Unbekannten hinzugeben. Hingabe erfordert daher ein rudimentäres Verständnis über denjenigen, dem man sich Hinschenken möchte. Dieses Verständnis erhalten die Krishna-Bhaktas unter anderem aus der Bhagavad Gita, wo Krishna sagt:

„O Eroberer von Reichtum, jenseits von mir gibt es nichts Höheres mehr zu erkennen. Wie Perlen, aufgereiht auf einer Schnur, ruht alles was ist und was wir sehen auf mir allein.“
(7.7)

„Denjenigen, die mir ständig hingegeben sind und mir mit Liebe dienen, gebe ich das Verständnis, durch das sie zu mir gelangen können. Um ihnen besondere Gnade zu erweisen, zerstöre ich, der ich in ihren Herzen weile, mit der leuchtenden Fackel des (göttlichen) Wissens die aus Unwissenheit geborene Finsternis.“
(10.10-11)

„Des weiteren, o Arjuna, bin ich der ursprüngliche Same aller Schöpfungen. Es gibt kein Geschöpf – ob beweglich oder unbeweglich -, das ohne mich existieren kann. Was ich dir beschrieben habe, ist nur ein kleiner Hinweis auf meine unendlichen Füllen. Wisse, dass alle majestätischen, schönen und herrlichen Schöpfungen nur einem winzigen Funken meiner Pracht entspringen.“
(10.39-40)

„Nur durch Bhakti kann man mich (Krishna) so, wie ich bin, als die höchste Persönlichkeit Gottes, erkennen. Und wenn man sich durch solche Hingabe vollkommen über mich bewusst ist, kann man in mein höchstes Reich eingehen. Obwohl er (der Bhakti-Darbringende) allen möglichen Tätigkeiten nachgeht, erreicht er unter meinem Schutz und durch meine Gnade das ewige, unvergängliche Reich.“
(18.55-56)

 

Krishna-Bhakti

Bhakti zu Krishna wird unter anderem in der Bhagavad Gita (12. Kapitel) , dem Gesang Gottes erklärt. Krishna, der in der Brahma-Samhita von Brahma als Adi-Purusa (urerster Herr) bezeichnet wird, erscheint und erweitert sich jedoch in viele göttliche Gestalten, wie Rama, Narasimhadeva, Narayana, Vishnu usw. Sie alle werden unter dem Begriff „Vishnu-Tattva“ zusammengefasst.
Sie werden vom Bhagavata Purana unmissverständlich vom Jiva-Tattva, der unbegrenzten Zahl individueller Seelen (Atmans), unterschieden.
(Siehe hierzu auch Krishnas und Radhas Eigenschaften.)

Selbst die Devas (Halbgötter genannt) wie Varuna, Indra, Agni, Brahma, Vayu usw., werden dem Jiva-Tattva zugeordnet, trotz ihrer machtvollen Position innerhalb des Universums. Einzig Shiva und seine Ehefrau Parvati (die personifizierte Maya) bilden ein besonderes Tattva, Shiva-Tattva. Adi-Shiva und die ursprüngliche Parvati besitzen ihren eigenen, in sich unbegrenzten spirituellen Planeten.
(Siehe hierzu „Die vielen Gottesreiche des EINEN„.)

Durch den versteckten „Goldenen Avatara“ Sri Krishna-Chaitanya (1486-1533), wurde die Krishna-Bhakti im 16. Jahrhundert wie ein Lauffeuer über den indischen Subkontinent verbreitet und gehört heute zu den populärsten Formen des Yoga.

Krishna-Bhakti von Krishna selbst erklärt

Im 14. Kapitel des 11. Buches des Bhagavatapurana erklärt Krishna seinem Freund und Geweihten Uddhava das Wesen der Bhakti:

„Im Verlauf der Zeit, in der Weltauflösung, ist das Wort, der Veda, verloren gegangen. Es wurde von mir am Anfang dem Brahma (Gestalter der Welt) verkündet und auch des Wortes Wesensgesetz: den Geist in mich zu versenken. Von Brahma wurde es seinem erstgeborenen Sohn, dem Manu verkündet. Und von Manu empfingen es die sieben Seher der Urzeit (die 7 Rishis) und von diesen Vätern die Söhne, die Devas, Dämonen und Menschen.

Aber deren Natur und Charakter ist jeweils verschieden aus Rajah (Leidenschaft), Sattva (Reinheit) und Tamah (Unwissenheit) entstanden. Entsprechend ihrer Natur sind ihre mannigfaltigen Aussagen: ‚Das ewige Recht‘ oder ‚Ruhm‘ oder ‚Wahrheit‘, ‚Zügelung‘, ‚Gelassenheit‘ und ‚Geistesruhe‘ sagen die einen. Andere sagen: ‚Der eigene Besitz‘, ‚Herrschermacht‘, ‚Entsagung‘ und ‚Genuss‘. Wieder andere sagen: ‚Askese‘, ‚das Spenden von Gaben‘, ‚Beherrschung des aus- und eingehenden Atems‘. Und diese alle werden in Welten geboren, die einen Beginn und ein Ende haben, aus Karma gebildet, mit Leid am Ende, in Finsternis weilend, mit erbärmlichen Freuden, dem Gram hingegeben.

Aber wer Mir hingegeben ist, abhängig von nichts in der Welt, dessen Freude in Mir, Gott dem Ursprung, besteht, wie kann er über irdische Dinge noch irgendwelche Freude empfinden? Wer nichts mehr für sich haben will, der Gezügelte, der von Frieden Erfüllte, dessen Seele den Einen in allem erkennt, der in Mir nur seine Befriedigung findet, für den sind alle Weltgegenden voller Glück. Nicht wünscht er die Herrlichkeit des Schöpfers der Welt (Brahma), oder des Königs des Himmels (Indra) oder Herrschaft über alle Erde oder Gewalt über die Reiche der Unterwelt, weder Yogamacht (Siddhis) noch Befreiung (Moksha). Er wünscht nur das eine, sein ganzes Wesen Mir hinzugeben, sonst wünscht er nichts.

Sie, die nicht irgendetwas für sich haben wollen, doch deren Herz entbrennt in sehnsüchtiger Liebe zu Mir, voll heiterem Frieden, diese Grossen, voll barmherziger Güte zu allen lebenden Wesen, sie nur erfreuen sich Meines Glücks des Wunschlosseins; die ungestillten Geister voll Begierde kennen es nicht. Auch wenn Mein Bhakta seine Sinne noch nicht zügeln kann und von den Sinnesdingen angefallen wird, so wird er doch kraft seiner mutvollen Bhakti von der Sinnenwelt meistens nicht überwältigt.

So wie ein wohlentflammtes Feuer das Brennholz zu Asche verzehrt, so verzehrt die Bhakti, die Mich als Ziel hat, alle Sünden und alles Unglück. Yoga, Erkenntnis und rechtes Tun, Studium der Veden (der heiligen Schriften), Askese, Entsagung gewinnt Mich nicht derart, wie die wunderbar gewaltige Bhakti zu Mir. Durch ungeteilte Bhakti und durch gläubiges Vertrauen werde Ich ergriffen, Ich, das geliebte innere Selbst der wirklich Seienden. Unerschütterliche Bhakti zu Mir rettet sogar den Hundeesser vor der Wiedergeburt.

Tugendüben und Wahrhaftigkeit, voll Barmherzigkeit und auch Weisheit, durch Askese gestärkt, läutert eine Seele nicht völlig, die entblösst ist von der Bhakti zu Mir. Wie soll ohne glückschauerndes Haaresträuben, ohne Schmelzen des Herzens, ohne sanftes Niedertropfen von Freudentränen der Geist geläutert werden!? So wie Gold ins Feuer geworfen, seine Beschmutzung verbrennt und seine wahre Natur wiedererlangt, so schüttelt das Lebewesen durch liebende Hingabe an Mich die finsteren Folgen seines Karmas ab, die ihn wie Ketten an immer neue Erdenleben binden – und liebend hat er Teil an Mir. So wie ein krankes Auge durch Anwendung eines heilenden Öls die zarten Stoffe immer klarer sieht, so wird das Lebewesen immer mehr geklärt, wenn es den lieblichen Geschichten von Mir lauscht und wenn es Meine Namen singt.

Das Herz, das über Sinnendinge meditiert, das haftet an den Sinnendingen an. Das Herz, das sich wieder und immer wieder in Liebe Meiner erinnert, das dringt in die Freiheit Meines höchsten Reiches ein. Wenn einer den Nektar der Unsterblichkeit trank, was soll er noch zu trinken begehren? Wenn ein Wissenssucher Mein göttliches Wesen weiss, was soll er noch zu wissen begehren? Wenn der Sterbliche aufgegeben hat alle Wege des Karmas und sein Selbst Mir hinzugeben (atma-nivedanam) begehrt, dann wird er sich des todlosen Seins bewusst und hat Anteil durch Mich, gemeinsam mit Mir am Leben des wahren Selbst.“

(Vers 3-34; zitiert aus „Die indische Gottesliebe“ von Walther Eidlitz)

Der heilige Name Krishnas

Es gibt 9 herausragende Ausdrucksformen in der Krishna- oder Vishnu-Bhakti, die im Bhagavatapurana (7.5.23) erwähnt werden. Eine davon (kirtanah) wird für das Kali-Yuga, das gegenwärtige Zeitalter, besonders hervorgehoben:

harer nama harer nama harer namaiva kevalam
kalau nasty eva nasty eva nasty eva gatir anyatha

„Im gegenwärtigen Zeitalter des Kali gibt es kein anderes Mittel, kein anderes Mittel, kein anderes Mittel zur Selbstverwirklichung als der heilige Name von Hari, der heilige Name von Hari, der heilige Name von Hari.“
(Brihan-naradiya Purana 38.126)

Hari ist ein Name Krishnas, der bedeutet: Jener, der das Herz seiner Geweihten stiehlt. Doch im Kontext des Verses bezieht sich Hari auf jeden Namen Gottes.
Die dreifache Wiederholung ist eine rhetorische Methode der Schriften, eine Sache stark zu betonen oder besonders hervorzuheben.

Dieser Vers gilt als einer der zentralen Verse der Brahma-Gaudiya-Sampradaya, der Guru-Schüler-Nachfolge, die von Brahma ausgeht, hat aber auch in den anderen Vaishnava-Sampradayas seine Bedeutung.

Sri Krishna-Chaitanya erklärt die Wirkung des gemeinsamen Singens von Krishnas Namen:

krsna-premodgama, premamrta-asvadana
krsna-prapti, sevamrta-samudre majjana

„Die Liebe (Prema) zu Krishna erwacht und so kostet man den Nektar der transzendenten Liebe (Prema-amrita). Man erlangt Krishnas Lotosfüsse und taucht in den Nektarozean des liebenden Dienens (Seva).“
(Caitanya-caritamrta, Antya-lila 20.14)

Das Singen oder Sprechen (kirtanah) der Namen Gottes wird von allen vier Hauptschulen der Vishnu-Bhakti hervorgehoben. So wird an vielen Orten, sei es ein Tempel oder ein Ashram, ohne Unterbruch der heilige Name gesungen, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche.

Beziehungen der Liebe

Die Erweckung, Entfaltung und letztlich die sich ewig steigernde, voll entfaltete Liebe zu Gott (Prema-bhakti) gilt als erstrebenswerte Vollkommenheit des Bhakti-Yoga. Daher handelt Bhakti-Yoga von Beziehungen, von Beziehungen selbstloser Liebe.

Rasa (göttlicher Wohlgeschmack) ist die ewig-frische Freude/Ekstase der fünf Hauptbeziehungsarten in Vraja (Vraja ist eine in sich unbegrenzte „Örtlichkeit“ innerhalb der spirituellen Welt, Vaikuntha, und gilt unter den Krishna-Bhaktas als das höchste Liebesreich Gottes. Daher wird Krishna in den Schriften Rasaraja, der König aller Liebesgeschmäcker, oder Akhila-rasa-amrita-murtih, das Behältnis aller Arten von Liebesgeschmack, genannt.)

Die 5 Hauptbeziehungen
  • Shanti-bhava: Die neutrale Beziehung, die in der Gewissheit, der sie tragenden Liebe Gottes, mit tiefstem göttlichem Frieden erfüllt.
  • Dasya-bhava: Die unermüdliche Liebe eines treuen Dieners zu seinem geliebten Herrn.
  • Sakhya-bhava: Freundschaftliche Liebe. In Vraja gehören die jungen Spielkameraden zu dieser Gruppe. Durch göttlichen Einfluss vergessen diese Freunde die allmächtige Position des Herrn, damit die liebenden Gefühle der Freundschaft und Ebenbürtigkeit nicht behindert werden.
  • Vatsalya-bhava: Elterliche Liebe. Krishna offenbart sich als Kind und der Bhakta ist durch göttlichen Einfluss überzeugt, Er ist mein eigenes Kind, das sie liebend umsorgen. Yashoda und Nanda und auch die Ammen und Nachbarinnen in Vraja, gehören zu diesem Kreis elterlicher Gottesliebe.
  • Sringara-bhava: Auch Madhurya-bhava genannt. Gottesliebe, ähnlich wie eine Ehefrau ihren Mann oder eine Geliebte ihren Geliebten liebt, ohne Absicht für persönliches Glück. Innerhalb dieser Gruppe bilden die Gopis (Kuhhirtenmädchen) in Vraja den intimsten Kreis dieser Gottliebenden. Angeführt werden sie von Srimati Radhika, der spirituellen Personifikation allerhöchster, unbegreiflicher Gottesliebe (Premabhakti), die nicht verschieden ist von Sri Krishna.

All diese Beziehungen bewegen sich auf einer ausschließlich spirituellen Ebene der Transzendenz. Daher warnen die Schriften die Studierenden, sie mit den lustvollen Augen der Weltlichkeit zu betrachten oder zu analysieren.

Jeder der ewigen Mitspieler Gottes hat in seinem Spiel (Lila) von Ewigkeit her eine dauernde Form (Gestalt) seiner Beziehung zu Gott im liebenden Dienen, welche Sthayi-bhava genannt wird. Jede einzelne dieser ewigen Bhavas ist in sich vollkommen und vollständig, frei irgendeines Mangels. Der Körper eines solch ewigen Gefährten Krishnas (auch wenn er oder sie an der Lila auf Erden teilnimmt) besteht nicht aus Fleisch und Blut, der liebende Bhakta besitzt einen ewigen spirituellen Körper aus Dienekraft, aus Prema (Gottesliebe). Er muss auch nicht – gleich einem Adepten, der neu hinzukommt – erst noch einen Sthayi-bhava entwickeln.

In jedem der Sthayi-bhavas, die über dem Bhava des göttlichen Frieden liegen, ist der Reichtum der Prema der früheren Stufen mit eingeschlossen. So fluten z.B. im Sringara-bhava alle anderen vier Bhavas (Shanti, Dasya, Sakhya und Vatsalya) als Unterströme mit. Trotzdem gibt es keine Wertung von höher oder besser. Sie sind ewiger Bestandteil der göttlichen Vielfalt, allesamt dazu bestimmt, die Freude des Herrn auf unzählige Arten zu steigern.
Die aus der intensiven Liebe enstehende Gier, liebevoll zu dienen zu wollen und durch dieses Dienen Sri Krishna, das Zentrum ihres Seins, das Leben ihres Lebens zu erfreuen (als ihren Erhalter, ihren Herrn, ihren Freund, ihr Kind, ihren Geliebten), ist all diesen Bhavas – in ansteigender Intensität – gemeinsam.

(Siehe Walther Eidlitz: Krsna-Caitanya – Sein Leben und Seine Lehre)

Govinda ist Adi-Purusha, die urerste höchste Persönlichkeit Sri Krishna

Brahma spricht:

isvarah paramah krsnah
sac-cid-ananda-vigrahah
anadir adir govindah
sarva-karana-karanam
„Krishna ist der höchste Herrscher (Ishvara). Er besitzt eine ewige, von Wissen und Glückseligkeit erfüllte, spirituelle Gestalt. Govinda selbst ist ohne Anfang. Er ist der Ursprung allen Seins und die Ursache aller Ursachen.“
(Brahma-samhita 5.1)

Sri Krishna in der Bhagavad Gita:

bhumir apo ’nalo vayuh
kham mano buddhir eva ca
ahankara itiyam me
bhinna prakrtir astadha
„Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther (Raum), Denken-Fühlen-Wollen, Intelligenz und falsches Ego – diese acht Energien bilden die von mir zu unterscheidende Prakriti.“

apareyam itas tv anyam
prakrtim viddhi me param
jiva-bhutam maha-baho
yayedam dharyate jagat
„O starkarmiger Arjuna, versuche zu verstehen, dass ich, nebst dieser untergeordneten, noch eine höhere Energie besitze, die aus der Gesamtheit aller Lebewesen besteht, welche versuchen, die Prakriti zu nutzen oder auszubeuten.“

etad-yonini bhutani
sarvanity upadharaya
aham krtsnasya jagatah
prabhavah pralayas tatha
„Sei dir gewiss, diese beiden Energien sind die Ursache für alles Erschaffene und Ich selbst bin darüberhinaus die allumfassende Quelle der gesamten materiellen Schöpfung und ebenfalls ihrer Auflösung.“

mattah parataram nanyat
kincid asti dhananjaya
mayi sarvam idam protam
sutre mani-gana iva
„O Eroberer von Reichtum, jenseits von Mir gibt es nichts Höheres mehr zu erkennen. Wie Perlen, aufgereiht auf einer Schnur, ruht alles was ist und was wir sehen auf Mir allein.“
(7.4-7)

Das Sri Chaitanya-caritamrita führt im 2. Kapitel des Adi-lila den shastrischen Nachweis von Sri Krishnas Position als Adi-Purusha, den urersten Herrn. Gleichzeitig wird aber betont, dass es nicht falsch ist, wenn ein Geweihter Vishnus sagt, Krishna sei ein Avatara Narayanas.

Vaishnavas verstehen sich als Monotheisten

Liebende Hingabe zum Vishnu-Tattva wird als eine monotheistische Strömung verstanden. Das heißt, jede dieser ewigen, transzendenten Formen des Höchsten und alldurchdringenden Herrn IST der eine höchste Herr, der immer Einer bleibt, obschon er sich — einfach gesagt — grenzenlos vervielfältigen kann.
Der laienhafte Betrachter sieht darin fälschlicherweise viele verschiedene Gottheiten, die Krishna- und Vishnu-Bhaktas sehen aber darin nur die unbegrenzte Macht des Herrn, sich selbst der Liebe seiner Geweihten auf vielfältigste und vollkommene Weise zugänglich zu machen, was seine Fähigkeit, mit jedem einzelnen Atman eine persönliche individuelle Beziehung zu leben, mit einschließt.

Die monistische Advaita-Lehre (nicht der Monist selbst) ist der natürliche (geistige) „Feind“ (mangels eines besseren Wortes) der Vishnu-Bhakti-Lehre.
Warum?
Der Bhakta hat kein Interesse, mit dem Objekt seiner Liebe zu verschmelzen. Der Austausch von Liebesgefühlen erfordert zwei, den Liebenden und den Geliebten. Daher empfindet der echt liebende Bhakta die Vorstellung einer theoretischen Verschmelzung, bzw. Auflösung der Individualität, als eine Art Absichtserklärung für spirituellen Selbstmord, der den Liebesaustausch verunmöglicht.
Das bedeutet nicht, dass er nicht die qualitative Einheit versteht oder akzeptiert. Diese ist aber für ihn nur ein unwichtiger Teil des Ganzen. Das kommt in allen Schulen der Vaishnavas (von Ramanuja bis Madhva Acharya), zum Ausdruck.

Die Vaishnava-Acharyas sprechen von: Shuddha-Advaita (reine qualitative Einheit), Dvaita-Advaita (gleichzeitige Einheit und Verschiedenheit), Vishishta-Advaita (Unterschiedslos und dennoch bezeichnet und unterschieden) und Dvaita (Verschiedenheit, und zwar die Verschiedenheit der höchsten Seele Paramatma zur individuellen Seele Jivatma). Das sind die vier klassischen Vaishnava Doktrins, die sich bei genauem Hinsehen ganz real von der Advaita-Lehre Shankara Acharyas unterscheiden.

Sri Krishna-Chaitanya fasste dies mit den Worten „acintya bheda-abheda-tattva“ zusammen:

„Die höchste absolute Wahrheit ist auf unvorstellbare Weise gleichzeitig eins mit und verschieden von allem.“

Dies wird im Bhagavata Purana 1.2.11 näher veranschaulicht:

vadanti tat tattva-vidas tattvam yaj jñanam advayam
brahmeti paramatmeti bhagavan iti shabdyate
„Die Kenner der Wahrheit beschreiben die ewige Wahrheit, deren Wesen zweitlose (nichtduale) reine Erkenntnis ist, als Brahman, Paramatma und Bhagavan, so wird es vernommen.“

Wenn es hier heißt, die absolute Wahrheit sei nicht-dual (advayam), bedeutet es nicht, dass es in ihr keine Unterschiede gibt. So fährt der Autor fort, indem er die Unterschiede in dieser nicht-dualen Wirklichkeit des Transzendenten benennt:

  • Brahman, die alldurchdringende und eigenschaftslose spirituelle Energie.
  • Paramatman, die Überseele, welche jeden Atman begleitet und in transzendenter Gestalt in allen Dingen gegenwärtig ist. Siehe hierzu auch das 13. Kapitel der Bhagavad Gita.
  • Bhagavan, der höchste Herr selbst, der jenseits der manifestierten Prakriti in seinem ewigen Reich Vaikuntha weilt.

Alle drei Aspekte zusammen bilden die absolute, nichtduale höchste Wahrheit.

Shankara Acharya konzentrierte sich in seinem Kommentar zum Vedanta allein auf die qualitative Einheit aller Dinge und erzeugte so die Advaita-Vedanta-Lehre.
Wenn daher der Begriff Advaita in der Definition des philosophischen Systems eines Vaishnava Acharyas auftaucht, unterscheidet sich dieses grundlegend von der Schlussfolgerung Shankara Acharyas, die in seinem Kommentar zum Vedanta formuliert ist.

Shankara Acharya schrieb aber auch Gedichte, die als „Bhaja Govindam“ bekannt sind. Kurz vor seinem Weggehen aus dieser Welt sprach er die folgenden Worte:

bhaja govindam bhaja govindam bhaja govindam mudhamate
samprapte sannihite kale na hi na hi rakshati dukrinyakarane
„Verehre Govinda, verehre Govinda, o ihr Narren und Schurken, verehrt einfach Govinda. Eure Grammatikregeln und Wortspielereien werden euch zur Zeit des Todes nicht helfen.“

Shankara Acharya, eine Inkarnation Shivas, hatte eine unerfreuliche Aufgabe erhalten (weil er sein wahres Wesen und Fühlen verstecken musste). Er erhielt die Aufgabe, die Autorität des Vedanta wieder einsetzen, welche von Buddha aus bestimmten Gründen abgelehnt wurde. (Siehe hierzu auch „Von der Stille Buddhas zum Tanz Chaitanyas„.) Dies tat er, indem er die Ähnlichkeiten des Advaita im Vedanta im Vergleich zum Buddhismus hervorhob. So wurde durch seinen mächtigen Einfluss der Buddhismus durch die erneute Akzeptanz der Veden fast vollständig aus dem indischen Subkontinent verdrängt.
Diese Akzeptanz bildete die Grundlage dafür, das Wesen des Vedanta (Vedanta = das Ende des Wissens) weiter zu etablieren, wie es bereits in den Gedichten und letzten Worten Shankara Acharyas zum Ausdruck kommt.
Er warnt seine Nachfolger mit Nachdruck, nicht an Grammatikregeln oder Wortspielereien hängen zu bleiben, sondern das Ziel des Vedanta, Govinda (Sri Krishna) zu verehren. Denn Wortspielereien und Grammatikregeln, die noch heute unter Sanskritexperten und unter Indologen beliebt sind, können den verkörperten Atman nicht vor den Folgen seines Tuns (Karma) und dem Kreislauf der wiederholten Geburten und Tode beschützen.
Um daher seiner Aussage Gewicht zu verleihen, verwendet auch Shankara die dreifache Wiederholung von bhaja govindam (verehrt Govinda oder singt den Namen von Govinda).

Sri Krishna spricht in der Bhagavad Gita zu Arjuna:

sarvasya caham hrdi sannivisto mattah smrtir jñanam apohanam ca
vedais ca sarvair aham eva vedyo vedanta-krd veda-vid eva caham
„Ich weile im Herzen aller Lebewesen. Von mir kommt Erinnerung, Wissen und Vergessen. Durch alle Veden bin ich es, der zu erkennen ist. Ich bin der Verfasser des Vedanta und ich allein bin der Kenner der Veden.“
(15.15)

Das Ziel der Veden ist Sri Krishna (Govinda) und das Ende des Wissens (Vedanta) liegt darin, ihn zu erkennen und zu verstehen und ihn liebend zu verehren, – bhaja govindam bhaja govindam bhaja govindam, wie es Shankara Acharya persönlich und mit Nachdruck in seinen letzten Worten übermittelt.

Shankaras Nachfolger sehen sich ausserstande, seine letzte Aufforderung sinnvoll einzuordnen. Das wird erst dann möglich, wenn die gleichzeitige Vielheit der Einheit erkannt wird, wie es obiger Vers (1.2.11) aus dem Bhagavata Purana beschreibt und von Krishna-Chaitanya erklärt wird: acintya bheda-abheda-tattva, die höchste Wirklichkeit (Gott) ist auf unvorstellbare Weise gleichzeitig mit allem (allen seinen Energien) eins und von ihnen verschieden.